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Thomas Harms im Interview

Thomas Harms im Interview

Unter dem Titel »Es Schreit!« hat die Zeitschrift »WEGE. Das Magazin zum Leben« unseren Autoren Thomas Harms interviewt. Wir freuen uns sehr, dass wir Ihnen das Interview nun auch auf unserer Verlagshomepage zur Verfügung stellen dürfen:

Es schreit!
WEGE-Interview mit dem Bremer Körperpsychotherapeuten Thomas Harms von Eva Schreuer
Säuglinge haben noch keine Worte. Sie kommunizieren über Mimik, Gestik, Körperhaltung – und wenn ihnen etwas nicht passt, beginnen sie zu quengeln, zu weinen, zu schreien. So weit, so gut. Problematisch kann es werden, wenn sich Babys scheinbar grundlos die Seele aus dem Leib schreien, stundenlang und ohne Pause. Ihre verzweifelten Mütter und Väter finden neuerdings Hilfe in sogenannten »Schrei-Ambulanzen«. Ein Pionier und maßgeblicher Ideengeber für solche Krisenberatungsstellen ist Thomas Harms. Der Begründer der »Emotionellen Ersten Hilfe« unterstützt seit über 25 Jahren junge Eltern dabei, wieder eine stabile emotionale Verbindung zu ihrem Baby aufzubauen.

WEGE: Thomas, ich freue mich wirklich, dich auch mal persönlich kennenzulernen. Als gelernte Hebamme und 5-fache Mama bin ich nämlich von Anfang an ein großer Fan deiner Arbeit! Was war eigentlich damals in den 90er-Jahren der Anstoß für deine intensive Beschäftigung mit »Schreibabys«?
Thomas Harms: Während meiner Studienzeit in Berlin machten wir im Rahmen eines Uni-Projekts eine Interviewserie mit Müttern und Vätern, deren Kinder per Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren. Dabei zeigte sich, dass viele dieser Eltern mit dem exzessiven, untröstlichen Schreien ihrer Säuglinge nicht umgehen konnten. Diese Eltern verstanden die Ausdruckssprache ihrer Babys nicht. Sie waren ratlos, entmutigt und mit den Kräften oft völlig am Ende. Aber selbst in so einer Millionenstadt wie Berlin gab es damals keine passende Anlaufstelle für ihr Problem. Das passte für mich überhaupt nicht zu der Dringlichkeit ihrer Not. Viele standen unter extremem Stress, machten sich große Sorgen, und manche äußerten sogar die Angst, ihrem Kind aus der hohen Belastung heraus was anzutun!
Diese ersten Erfahrungen haben mich also dazu bewogen, mir das genauer anzuschauen. Ich befasste mich intensiv mit der Körperpsychotherapie nach Wilhelm Reich sowie mit der Bindungs- und Säuglingsforschung – und dann ging ich mit der Idee ans Werk, die erlernten Werkzeuge im Bereich der frühen Bindung und Elternhilfe einzusetzen und entsprechende Anlaufstellen zu gründen.

Es ist doch ganz normal, dass Babys hin und wieder schreien... Wo liegt denn die Grenze zum »Schreibaby«?
Babygeschrei ist immer auch ein Versuch, eine Spannung wieder aufzulösen. Zu »Schreibabys«, also untröstlich schreienden Babys, werden sie dann, wenn es ihnen nicht mehr gelingt aus einem Spannungszustand herauszukommen. Normalerweise beruhigen und entspannen sich Babys, wenn die Eltern reagieren, das Kind hochnehmen und seine Bedürfnisse befriedigen. Schreibabys können sich dann trotzdem nicht mehr beruhigen. Wir nennen das »disregulierte« Säuglinge – das heißt, das Schreien ist nicht mehr unmittelbar gekoppelt an bestimmte äußere Anlässe. Eine kleine Irritation löst bei Schreibabys einen regelrechten Erregungssturm aus. Ein extremes Schreien. Und aus dem kommen sie dann alleine, und auch mit Hilfe von Körperberührung, nicht mehr raus.

Kein Wunder, dass Eltern in so einer Situation verzweifeln.
Wenn sie zu uns kommen, stehen sie meist schon mit dem Rücken zu Wand. Sie wissen nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen und sind komplett überfordert mit der Heftigkeit der kindlichen, aber auch der eigenen Gefühle. Es ist also tatsächlich »Notfall-Hilfe«, was wir da leisten: eine akute Erstversorgung, um die elterliche Beziehungsintelligenz und Bindungsfähigkeit wieder herzustellen.

Soviel ich weiß, wird doch das mütterliche Bindungsverhalten nach der Geburt automatisch aktiviert...
Du meinst »automatisch« durch die hormonelle Überflutung? Dieses sogenannte »Bonding« funktioniert leider nur bedingt. Wir erleben immer wieder Fälle, wo der Bindungsfaden kurzfristig geknüpft wurde, dann aber wieder abgerissen ist. Die uns allen innewohnende natürliche, intuitive Bereitschaft zur elterlichen Bindungsbeziehung wurde bei ihnen anfangs zwar ins Klingen gebracht, aber dann durch äußere Stressfaktoren wieder außer Kraft gesetzt. Starke emotionelle, familiäre oder finanzielle Belastungen lassen diese Eltern in eine immer größere Spannungs-Spirale schlittern, wodurch der Bindungsfaden zum Kind immer dünner wird.
Eine andere, weitaus seltenere Gruppe sind jene Eltern, denen die grundsätzliche Beziehungsfähigkeit fehlt. Solchen Müttern und Vätern ist gesundes Bonding von vornherein gar nicht möglich, weil sie selbst gar nicht in der Lage sind, eine derartig nahe, enge Liebesbeziehung zum Kind aufzubauen.

Beziehung und Bindung gehen demnach nicht immer Hand in Hand?
Nein, da gibt’s einen Unterschied. Bindung ist zwar immer auch Beziehung – aber Beziehung ist nicht immer Bindung. Wenn ein Säugling eine verlässliche Bindungsperson um sich hat, gibt ihm das den nötigen Halt zum Entspannen. Dann kann sich der kleine Mensch sozusagen »herunterfahren« und ist nicht ständig gezwungen, sich selbst und seine Umwelt im Auge zu behalten und zu kontrollieren. Das gilt übrigens auch für Kinder, Jugendliche und Erwachsene: Bindung bedeutet auch Sicherheit und Vertrauen!
Beziehungen hingegen haben wir mit vielen Menschen, z.B. mit Arbeitskolleginnen, mit Nachbarn oder dem Verkäufer im Supermarkt. Das sind deshalb keine Bindungsbeziehungen, weil wir diese Menschen auch nicht kontaktieren, wenn es uns schlecht geht ... Und so empfinden auch Säuglinge! Im Stress brauchen sie starke und feinfühlige Bindungspersonen, bei denen sie sich sicher fühlen und ganz ICH sein können. Erst dann sind sie in der Lage, sich ihrem inneren Selbst zuzuwenden und sich gleichzeitig neugierig der Welt zu öffnen.

Und wie reagieren jene Kinder, denen diese Basis nicht zur Verfügung steht?
Die ziehen sich zurück. Ein Kind, das den sicheren Hafen eines Bindungserlebens nicht genügend erfahren hat, wertet das Leben als massives Gefahrenmoment und reagiert mit Isolation. Dieser Stress ist evolutionsbiologisch nicht vorgesehen, denn unser genetisches Programm als Säugetiere basiert auf der Fähigkeit und Bereitschaft zur Bindung. Das heißt aber nicht, dass sie immer funktioniert.

Was kann Eltern derart aus dem Lot bringen, dass sie nicht mehr schaffen, ihrem Kind die emotionale Grundversorgung zu geben?
Auslöser sind oft bestimmte Beziehungserfahrungen bzw. Prägungen aus der eigenen Zeit als Fötus oder Kleinkind. In unserer Praxis erleben wir das recht häufig. Da kommen Mütter, die bereits massiv erschüttert und mit den Nerven am Ende sind – und dann zeigt sich relativ rasch, dass das ständige Schreien des Kindes unbewusste Erinnerungen an gewisse Irritationen und Verletzungen aus ihrer eigenen Vergangenheit an die Oberfläche gebracht hat. Der intensive Körperkontakt mit dem Baby »verflüssigt« sozusagen den verdrängten inneren Stress und setzt ihn wieder frei. Der Schutzpanzer, den sich die Mutter in ihrer Kindheit angeeignet hat, wird regelrecht »aufgeweicht« ...

... und ihr Körper erinnert sich?
Genau das. Weil Babys so plastische, lebendige und berührbare Wesen sind, können sie die neurotischen Schutzstrukturen bei Erwachsenen durchdringen. Sie sind in der Lage, unser Herz so tief zu berühren, wie wir es vielleicht noch nie zuvor erfahren haben. Dadurch reaktivieren sie aber auch mit ziemlicher Sicherheit die verletzten Selbstanteile in uns. Das ist auch der Grund, warum manche Menschen Babygeschrei fast nicht aushalten – selbst wenn es nur ein fremdes Kind ist, das sie irgendwo beim Einkaufen oder im Restaurant schreien hören. Man könnte es so beschreiben, dass man mit einem Baby, ob man will oder nicht, außer Rand und Band geraten kann. Man verliert sozusagen die »Form«, die Fassung ...

... weil das weinende Baby die eigenen frühen Wunden berührt.
Und auch die eigenen, ungeweinten Tränen, die dann sehr oft hervorbrechen. Im Prinzip werden durch das Kind unbewusste, unverarbeitete Teile der eigenen Vergangenheit neu belebt. Dann können plötzlich starke Gefühle von Verzweiflung und Ohnmacht auftauchen – ja manche bekommen sogar richtiggehend Angst vor ihrem Baby: »Ich halte das Weinen nicht mehr aus! Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll!« usw... Das kann sogar bis zu Gewaltfantasien gehen. Derart heftige Gefühle lassen sich in der therapeutischen Arbeit meist auf eigene, sehr frühe Trennungserfahrungen und Traumatisierungen zurückverfolgen.
Deshalb beginnt im Prinzip auch jede unserer Therapien damit, die Eltern über ihren Körper behutsam in Verbindung zu bringen mit diesem nicht erinnerten Anteil.

Die Mutter wird quasi durch die Nähe zum Kind selbst wieder zum Kind?
Exakt. Und dieser verletzte Babyanteil in ihr ist selber noch total bedürftig. Es »schreit« sozusagen auch ihr inneres Baby, und dann kommt sie in ein Dilemma: Soll ich mich jetzt um mein »äußeres« oder mein »inneres« Baby kümmern?... Väter können übrigens genau so empfinden. Die meisten Eltern reißen sich dann zusammen, reagieren rational und wenden sich erst mal ihrem äußeren Kind zu – allerdings oft in einer eher defensiven Haltung: Ich muss das Kind zum Schweigen bringen, um mein »inneres« schreiendes Baby zu schützen. Weil es einen Schmerz in mir auslöst, den ich damals schon nicht ertragen konnte und der auch jetzt unerträglich ist.

Und das erzeugt Hilflosigkeit...
... und Gefühle von Versagen, Traurigkeit und Angst. Wir erleben immer wieder Mütter, die sich regelrecht das Herz aus dem Leib reißen und total aufopfern für ihr Baby. Tag und Nacht konzentrieren sie alle ihre Sinne auf das Kind. Sie beobachten und scannen es permanent, um nur ja allen schwierigen Situationen zuvor zu kommen: Könnte das Versteifen der Beinchen ein Hinweis auf eine sich anbahnende Schreiattacke sein? Ist das Schmatzen ein Zeichen, dass es gleich zu quengeln beginnt? ...nd schnell nehmen sie das Kind hoch, schaukeln es, tragen es herum, geben ihm den Schnuller oder die Brust – nur, um ja nicht wieder in diese Hilflosigkeit zu kommen.
Diese Art von aufmerksamer Zuwendung hat allerdings nichts mit wirklicher Bindung zu tun. Es fehlt die Herzverbundenheit. Die Mutter oder der Vater sind in solchen Situationen nicht mit der Tiefe ihres Wesens und mit ihrem Körper verbunden. Ganz im Gegenteil: Sie sind massiv gestresst, so als würden sie sich bedroht fühlen. Diese Haltung von Gefahrenabwehr – wie wenn ein Raubtier vor ihnen stehen würde – ist wohl die schlechteste Bedingung für eine echte Nahbeziehung.

Das läuft freilich alles unbewusst ab...
Klar, es beschäftigen sich ja die wenigsten Eltern schon vor der Geburt eines Kindes mit ihrer Bindungsfähigkeit oder den eigenen, frühen Prägungen. Meist sind sie völlig überrumpelt von der Heftigkeit dieser Gefühle – geschweige denn, dass sie wissen, woher sie überhaupt kommen. Sie haben sich davon abgespalten und ihre Wahrnehmung komplett nach Außen orientiert. Sie erleben sich gar nicht in ihrem Körper.

Und können dadurch auch nicht spüren, was ihr Kind tatsächlich braucht?
Zwischen Mutter und Kind läuft eine feinfühlige Abstimmung der Affekte, des Verhaltens, der Motorik... und wenn diese Abstimmung nicht funktioniert, dann haben wir sozusagen einen schlechten Tanz, bei dem sich die beiden ständig auf die Füße treten. Dieses »Missverständnis« können wir immer wieder beobachten.

Dass sozusagen die Empfindungen von Mutter und Kind völlig auseinander gehen?
Natürlich empfindet ein Säugling oder Kleinkind ganz anders als ein Erwachsener. Ein Baby denkt sich ja nicht: »Wie schön, meine Mama gibt sich wirklich viel Mühe!« Oder: »Die ist ganz toll, weil sie sich den ganzen Tag Gedanken macht, wie sie mir helfen kann.« Nein, Babys sind in ihrer Wahrnehmung total einfach gestrickt.
Echte Bindung funktioniert so: die Mutter ist eine Art WLAN- Station und das Baby loggt sich darin ein. Oder eine andere Metapher: Die Mama ist wie ein Sendeturm, zu dem ich eine ganz bestimmte Frequenz finden muss, um einen sensorischen und emotionalen Informationsfluss zu ermöglichen. Wenn diese Art des »Einloggens« gelingt, dann laufen alle möglichen Programme, sowohl bei der Mutter als auch beim Kind, relativ automatisch ab. Das sind sehr körperintelligente Systeme.

Aber Stress und Angst bewirken das Gegenteil.
Genau. Dann ist diese Art von Sendbereitschaft schlicht unmöglich. Stark gestresste Mütter sind mit ihrem Organismus bzw. mit dem Baby nur noch sehr unzureichend verbunden. In der Wahrnehmung des Babys ist der »Sendeturm Mama« dann nicht mehr anwesend, und es reagiert mit Trennungsangst.
Für die meisten Eltern ist das schwer verständlich: Sie geben dem Kind alles, was es scheinbar braucht, sie schenken im viel Körperkontakt, die Mama ist immer da, es wird gestillt, im Tragetuch herumgetragen... und trotzdem findet das Kind keine Ruhe und schreit sich die Seele aus dem Leib? ... Ja, weil die feinen Antennen des Babys Stress, Beschleunigung und Anspannung als Zeichen von »Bedrohung« orten – und dann springt sofort sein inneres Alarmsystem an, weil in unserem evolutionären Empfinden jede Erregung »Gefahr für meine Gruppe« bedeutet. In der Wahrnehmung des Babys sind also seine wichtigsten Bezugspersonen in Gefahr, und deswegen reagiert es nicht auf gute Vorsätze und Bemühungen, sondern auf die Physiologie. Das Kind gibt zwar Signale – aber wenn es darauf keine Resonanz bekommt, reagiert es mit Trennungsangst.

Wow, das war aber jetzt eine wirklich super Erklärung für die viel zitierte Mutter-Kind-Symbiose! Wie sehen denn solche Baby-Signale aus?
Nehmen wir ein Beispiel, das vermutlich schon viele von uns beobachtet oder selbst erlebt haben: Eine Mutter ist kurz vor Weihnachten im Einkaufscenter unterwegs – mit einer langen Geschenke-Liste im Kopf und einem zwei Monate alten Baby im Tragesack. Nach drei Stunden ist sie schon ziemlich erledigt und unter Druck: Sie hat noch nicht alles besorgt und weiß, dass es sich heute nicht mehr ausgehen wird, weil es draußen schon dunkel wird und ihr Mann zu Hause wartet. Das Kind an ihrem Körper nimmt den mütterlichen Stress sofort wahr. Es wird unruhig, beginnt zu quengeln oder zu weinen. Könnte es schon sprechen, würde es sagen: »Mama, wo bist du? Du überschreitest gerade meinen Toleranzkorridor. Bitte reagiere auf meine Signale und mach mal Pause!« Eine innerlich ausgeglichene Mutter nimmt solche Signale relativ schnell wahr und handelt entsprechend. Im Stress kann sie jedoch nicht mehr spüren, dass das Weinen eine Überforderung bedeutet und reagiert defensiv, genervt, ablehnend oder gar unterdrückend – was die Situation logischerweise verschlimmert: das Kind wird immer lauter, beginnt zu schreien, zu brüllen ...
Das System ist im Prinzip ein Hinweis zum Lösungsbild. Das Beste, was das Kind uns bietet, nämlich sein Weinen und Schreien, ist nicht das Problem, sondern das Symptom für eine »Nichtpassung«. Wenn ich das unterdrücke, dann habe ich die nächsten Probleme am Hals.

So eine »Nichtpassung« bewirkt also Kontaktabbruch?
Genau. Und in unseren Therapien und Beratungen mit Eltern und Säuglingen erleben wir, dass das sehr oft schon während der Schwangerschaft und Geburt ihren Anfang genommen hat. Die erste Lebensumwelt des Embryos ist ganz entscheidend für ein gutes Gedeihen. Die denkbar schlechteste Voraussetzung dafür ist eine dauerhafte Stress- und Angstbelastung.

Welcher Stress, welche Ängste?
Etwa wenn die Mutter aufgrund einer vorangegangen Fehlgeburt monatelang Angst hat, ob ihr Baby überhaupt gesund zur Welt kommen wird. Oder wenn ein unerwünschtes Kind über mehrere Schwangerschaftsmonate Ablehnung spürt – nicht nur von der Mutter, sondern auch vom Vater, oder von Oma und Opa, die das kommende Kind oder die Paarbeziehung vielleicht nicht gutheißen. Die prägendsten Erfahrungen sind natürlich Schrecken, Angst und Verzweiflung, etwa bei Frauen, die Gewalt oder Krieg erleben ...
Jedenfalls wissen wir heute, dass solche vorgeburtlichen Erlebnisse tatsächlich körperlich gespeichert werden und die kindliche Beziehungsbereitschaft massiv einengen. In der Pränatalzeit gestresste Babys gehen viel zu früh in eine Außenorientierung – die sollte erst nach der Geburt stattfinden.

Was wären die besten Voraussetzungen für das Ungeborene?
Das Wichtigste für das Baby im Bauch ist, dass es »eingefaltet« sein kann, dass es seine Energie ganz auf seine inneren Empfindungen konzentrieren kann. Es will sozusagen einfach nur »da sein«, sich in Ruhe entwickeln können. Und dafür braucht es von Außen ein gewisses Maß an Gelassenheit und Sicherheit. Zu sehr verunsicherte, gestresste oder ängstliche Eltern können so ein Umfeld nur schwer bieten.

Sind es nicht oft auch die Ärzte, die werdenden Eltern Stress machen?
Das stimmt, leider. Es beginnt schon bei den vielen Ultraschalluntersuchungen, wo die Mütter ihre ungeborenen Kinder ständig auf großen Bildschirmen sehen. Man könnte das freilich auch als ganz neue Möglichkeit sehen, die Bindung zum Ungeborenen zu fördern – aber tatsächlich bewirkt es eher das Gegenteil: Die Aufmerksamkeit der Mutter richtet sich durch diese Bilder viel zu früh nach außen. Sie braucht jetzt vor allem eine starke Introzeption, und ganz viel Schutz und Sicherheit im eigenen Umfeld, um sich nach innen wenden zu können. Dort wird echte Bindung aufgebaut!

Wenn dann beim Ultraschall auch noch Bemerkungen fallen, wie »Schon ziemlich klein, das Kind« oder »Es hat einen großen Kopf« ...
... kann das fatale Folgen haben! Solche Informationen aktivieren das mütterliche Stresssystem und erzeugen nicht selten eine Erwartungsangst, die sich durch die ganze Schwangerschaft zieht. Sie bewirken Unsicherheit, Stress und Ängste, die sich unweigerlich aufs Baby übertragen ...

... das sich dann nach der Geburt die Seele aus dem Leib schreit und mit seinen überforderten Eltern in der »Emotionalen Ersten Hilfe« landet. Was geschieht dann?
Unser körpertherapeutischer Ansatz richtet sich an alle drei: die Mutter, den Vater (sofern er mitkommt) und das Baby. Meistens beginnen wir damit, die Eltern zu stabilisieren. Sie müssen wieder »zu sich kommen«, sich selbst wahrnehmen und festen Boden unter den Füßen spüren.

Mithilfe welcher Methoden werden die Eltern »stabilisiert«?
Zuallererst schenken wir ihnen einmal unser Ohr. Das Dauergeschrei ihres Babys hat enorm intensive und bedrängende Gefühle in ihnen ausgelöst, und viele Mütter und Väter sind mit ihren Nerven schon ziemlich am Ende. Also geben wir ihnen genug Raum, über ihre Not mit dem Kind zu berichten. Und dann hilft meist eine einfache Atemtechnik: Die Eltern werden von uns angeleitet, ihre Aufmerksamkeit für einige Atemzüge auf den Bauchbereich zu lenken. Das bewirkt nicht nur, dass die Eltern sich entspannen – es hilft ihnen auch dabei, mehr innere Sicherheit und ein Gefühl der Abgrenzung zu entwickeln.

Klingt wie eine Lektion in Achtsamkeitsschulung.
Genau das ist es auch. Die Eltern lernen, mehr in ihrer Mitte zu bleiben und ihren Körper zu beobachten – auch wenn sie mit ihrem schreienden Baby zusammen sind. So entwickeln sie auch schnell den Mut, das Weinen des Babys nicht mehr unterdrücken zu wollen, sondern es mehr auszuhalten und zu begleiten.
Erst wenn die Eltern das können, wenden wir uns vermehrt dem Baby zu. Sobald das Kind spürt, dass seine Begleiter nicht mehr gestresst und verängstigt, sondern wieder verfügbar sind, fängt es damit an, uns seine Geschichte zu erzählen.

Die Babys erzählen euch Geschichten?
Tatsächlich laden wir sie dazu ein, uns doch zu erzählen, was sie bewegt und ihnen am Herzen liegt. Babys verfügen über eine ganz eigene Körpersprache, mit der sie uns dann darauf hinweisen, was sie belastet und bedroht. Jene Babys zum Beispiel, die eine lange, schwierige Geburt hatten, zeigen uns über Gesten, Körperhaltungen und ihr Schreien sehr direkt, was sie während ihrer Geburtsreise erfahren haben.
Das können sehr erschreckende Erlebnisse gewesen sein. Manche Babys berühren dabei sogar immer wieder jene Körperstellen, wo es unter der Geburt am meisten weh getan hat. Oft sind das ganz kurze, spontane Berührungen, die man schnell übersehen könnte. Dann bitten wir die Babys, es uns nochmal zu zeigen – und das Verblüffende ist: sie tun es tatsächlich!
Der nächste Schritt ist dann die sanfte Körperarbeit mit den Babys: durch zarte, schmetterlingsleichte Berührungen und spezifische Positionierungen des Körpers wird eine allgemeine Entspannung des Babys gefördert. Die ersten Anregungen für diese Arbeit bekam ich von Eva Reich, der Tochter von Wilhelm Reich, welcher die Körperpsychotherapie sozusagen »erfunden« hat. Unsere erste Begegnung bei einem Workshop 1987 in Berlin war für mich ein regelrechtes Erweckungserlebnis und ein großes Geschenk. Bei Eva sah ich zum ersten Mal, wie man körpertherapeutisch mit Babys arbeiten kann, sodass diese ihren emotionalen und körperlichen Rückzug wieder aufgeben. Ihre Arbeitsweise war so ganz anders, als das, was ich bislang kannte. Die Babys schmolzen förmlich unter den ultrazarten Berührungen dahin. Diese minimal stimulierende Qualität, dieser Respekt vor den Abwehrgrenzen des Säuglings, hat meine therapeutische Arbeit mit Babys und Erwachsenen bis heute tief geprägt.

Aus meinen Erfahrungen als Hebamme, Mama und Oma weiß ich, dass viele Babys intensivere Schreiphasen haben – kurzzeitig, tageweise, sehr oft in den ersten Wochen nach der Geburt. Ab welchem Punkt rätst du jungen Eltern eine Schreibaby-Ambulanz aufsuchen?
Das sollten sie dann machen, wenn sie sich trotz Selbsthilfemaßnahmen und Unterstützung durch Familie und Freunde dauerhaft überfordert fühlen. Verzweiflung, Ratlosigkeit oder totale Erschöpfung müssen von den Eltern nicht hingenommen und »ausgehalten« werden. Schon wenige Sitzungen mit einer/m ausgebildeten EEH-BeraterIn können sehr viel zur Entlastung der gesamten Familie beitragen.


Der Neubeginn mit so einem kleinen Menschlein ist ja immer aufregend. Hättest du zum Schluss noch einen allgemeinen Rat für frischgebackene Eltern?
Erstens: Ein Baby braucht gar keine großen Sperenzien. Es braucht keine Dauerbeobachtung und auch keine ständigen Kümmereien. Was Babys wirklich brauchen, sind einerseits Bezugspersonen, die Lust auf ihr eigenes Leben haben, die sich spüren, die lebendig sind, die auch Konflikte haben ... das normale Leben eben – und anderseits dass sie in einem solchen Umfeld ihren Vollplatz einnehmen dürfen.
Und zweitens ist mir noch etwas ganz wichtig zu betonen: Es stimmt zwar, dass das Umfeld Babys prägt und sie sehr abhängig von der zentralen Bindungsperson sind – aber nichtsdestotrotz ist jedes Baby vom ersten Moment an eine eigene Persönlichkeit mit sehr individuellen Kompetenzen! Bei unserer Arbeit erlebe ich immer wieder Kinder, die sich trotz eines multitraumatisierenden Umfeldes, trotz ihrer extremen Frühchengeschichte, trotz ihrer langen Klinikaufenthalte usw. ein inneres Feuer, ein Strahlen, eine Stärke, eine Lebenszuversicht erhalten haben, die mich total verblüffen. Warum das so ist? Das ist der Teil, der unbeantwortet bleibt – ein bleibender Zauber, wenn man so will. Gott sei Dank!

Erschienen in WEGE 3/2018 »Aller Anfang«:
www.wege.at

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